Wellness-Beiträge



Wellness: Die ständige Überforderung verlangt nach einem Ausgleich

Ein Interview des Magazins Psychologie heute mit dem Vorsitzenden des Deutschen Wellness Verbands Lutz Hertel über Wellness und den Alltag - und wie man beides verbinden kann.



PSYCHOLOGIE HEUTE: Was versprechen sich Menschen von den Wellness-Angeboten?

HERTEL: Viele haben Sehnsucht nach Streicheleinheiten. Nicht nur körperlich, auch psychisch und selbst spirituell. Das Bedürfnis nach Wellness hat die Funktion eines Krankheitsersatzes übernommen. Wenn ich krank bin, habe ich ein Recht auf Auszeit und Zuwendung. Mit Wellness brauche ich aber nicht krank zu sein, um das zu bekommen. Manche kompensieren mit Wellness auch ihren rasenden und verschleißenden Lebensstil. In zwei bis drei Tagen sollen die Tanks neu gefüllt sein, um sich dann wieder dem alltäglichen Wahnsinn entgegenzuwerfen. Für andere ist Wellness verkappte Therapie. Sie spüren, dass sie Hilfe brauchen, wissen aber nicht, was das sein könnte. Wellness bietet ihnen einen Einstieg an; es ist die Vorstellung, durch exotische, teilweise auch rituelle und mystische Anwendungen die innere Balance wiederzugewinnen.

PH: Und was bringen die Angebote aus psychologischer Sicht tatsächlich?
HERTEL In der Regel kann man von solchen Programmen eine Beruhigung des vegetativen Nervensystems erwarten. Die Sinne werden angenehm stimuliert, sanfte Hände arbeiten auf dem Körper. Wer es nicht bei passiven Verwöhnritualen belässt, sondern sich der ganzheitlichen Umsetzung des Wellness-Gedankens öffnet, kann mit leichter Bewegung seinen Körper in bessere Form bringen, bei genussvollen Vital-Menüs überraschende Erfahrungen mit gesunder Ernährung machen und auch durch persönliche Beratung Lösungshilfen für Probleme des Alltags gewinnen.

PH: Wie muss Wellness beschaffen sein, damit sie Entspannung bringt, die in den Alltag hinein wirkt?
HERTEL Wellness ist nicht die Schnellkompensation eines ungesunden und unerfüllten Lifestyles, sondern ein Rahmenkonzept für den Lebensalltag. Wellness-Entspannung ist vor allem Entschleunigung. Viele machen den Fehler, zu viel in zu kurzer Zeit erreichen zu wollen. Wer ein Programm durchpowert, weil er keine Zeit und viel Geld dafür bezahlt hat, wird enttäuscht sein. Dann muss natürlich die Aktivität selbst Entspannung bringen. Nicht jede Entspannungsform ist für Jeden geeignet. Hier sollte man sich mit fachlicher Anleitung den “passenden Schuh” suchen. Professionelle Wellness-Therapeuten können sich auf den Typ einstellen und haben Erfahrung in der richtigen Dosierung. Grundsätzlich empfehle ich, Entspannung als aktive Technik – ob Yoga, Tai Chi, Autogenes Training oder Meditation - zu erlernen. Dann wirkt sie am besten im Alltag.

PH: Was sagt der Wellness-Boom über das Verhältnis des modernen Menschen zu sich selbst, seinem Körper und seiner Psyche aus?
HERTEL Die Deutschen haben es sich mit dem Genuss lange schwer gemacht. Der dafür eher bekannte mediterrane Lebensstil hat hierzulande noch keinen Platz gefunden. Dennoch haben die Deutschen in den letzten Jahren an Härte gegen sich selbst verloren. Turnte man in den achtziger und neunziger Jahren noch Jane Fonda und Arnold Schwarzenegger hinterher, kann man heute durchaus mit Qi Gong oder Yoga beeindrucken. Die Menschen sind für Fragen der Psyche und Gesundheit sensibilisiert. Sie wissen eine Menge über Risiken und Skandale und begreifen, dass sie selbst etwas für ihre Gesundheit tun müssen.

PH: Warum können wir uns eigentlich nicht selber verwöhnen?
HERTEL Wellness ist durchaus nicht nur das totale Verwöhnerlebnis. Aber der Wunsch, einmal so richtig verwöhnt zu werden, scheint ein Riesenbedürfnis zu sein. Immer weniger Menschen müssen in immer kürzerer Zeit immer mehr Arbeit bewältigen. Diese ständige Überforderung schreit nach Ausgleich. Viele Menschen leben in einem chronischen psycho-mentalen Stress-Szenario. Zugleich fehlen die sozialen und emotionalen Auffangstrukturen, von den spirituellen ganz zu schweigen. Auf der anderen Seite haben sich körperliche Fehlbelastungen manifestiert. Wir bewegen uns kaum noch und verbringen viel Zeit in Dauerfehlhaltungen. Da wundert der Aufschrei nach kurzfristigem, aber totalem Loslassen nicht.

PH: Aber warum brauchen wir sinnliche Anregungen durch Wellness, die organisiert und meist auch noch teuer sind?
HERTEL Genuss ist für jeden Menschen auch auf einfache Art im Alltag möglich. Manches wird ja von der Konsumgüterindustrie zum Wellness-Erlebnis aufgewertet, zum Beispiel die morgendliche Dusche mit einem Wellness-Duschgel. Aber solche Selbstverständlichkeiten reichen nach heutigen Maßstäben vielen nicht mehr. Wellness will fast wie ein sexueller Höhepunkt erlebt werden, es soll einen regelrecht überwältigen. Und das muss sich dann passiv, in totaler Hingabe ereignen. Es muss inszeniert und organisiert werden, damit es dann letztlich hoffentlich auch klappt.

PH: Sind die körperlichen Streicheleinheiten solcher Wellness-Angebote letztlich seelische Streicheleinheiten, die im Alltag fehlen?
HERTEL Ja, es geht vor allem darum. Massagen stehen ganz oben auf der Hitliste der Anwendungen. Da geht es um Berührung, das Aufspüren von wunden Punkten, Streichen und Streicheln, manchmal fast schon ein kontrolliertes Liebkosen mit den Händen. Das geht absichtlich unter die Haut, also auch ins Seelische hinein. Die Anwendungen dauern bis zu zwei Stunden. Wer bekommt im Alltag so viel ungeteilte Zuwendung? Männer sind zwar langsam aufgeschlossener für solche Behandlungen, doch es zieht vor allem Frauen magisch an. Ich habe bisweilen den Eindruck, dass Frauen in der Wellness-Abteilung Bedürfnisse decken, die zu Hause unbefriedigt bleiben.

Mit Lutz Hertel sprach Eva Tenzer

  Zurück zur Übersicht

Fördermitglieder