John W. Travis: Dr. Wellness
Dr. John W. Travis gehört zu den maßgeblichen konzeptionellen Kräften der Wellnessbewegung. Er studierte Medizin an der Tufts University, arbeitete sechs Jahre für den U.S. Public Health Service und schloss 1971 ein weiteres Studium zum Master of Public Health an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health ab.
Von 1971 bis 1979 betrieb er das erste von einem Arzt geführte Wellness Center in Mill Valley, Kalifornien. 1972 veröffentlichte er, inspiriert von Halbert L. Dunn, das "Illness-Wellness Continuum". 1975 veröffentlichte er auf Basis seines Konzepts des Wellness Energy Systems erstmals das Wellness Inventory - ein Fragebogenverfahren zur Selbstexploration des eigenen Wellness-Zustands. 1977 erschien die erste Ausgabe seines Wellness Workbooks (in späteren Neuauflagen in Co-Autorenschaft mit Regina Ryan). Weitere Buchveröffentlichungen folgten, unter anderem Wellness for Helping Professionals. 1979 erzielte er durch ein einstündiges TV-Interview, das in den gesamten USA ausgetrahlt wurde, große Aufmerksamkeit für das Wellness-Konzept.
In den 1990er Jahren verschob sich Travis' Fokus von der Beschäftigung mit erwachsenen Individuen auf die Situation von Kindern und Familien. Er beteiligte sich unter anderem an der Gründung der Organisation The Alliance of Transforming the Lives of Children (aTLC) und an Connected Couples - Thriving Families (CCTF).
It became apparent that working with adults to learn about wellness
was like locking the barn door too late.
Im Jahre 2000 wechselte Travis seinen Lebens- und Arbeitsschwerpunkt nach Australien, wo er Lehrbeauftragter des Royal Melbourne Institute of Technology (RMIT) wurde.
Wir möchten hier die von Travis entwickelten Kernkonzepte kurz darstellen, weil sie von großer Bedeutung für ein richtiges Wellness-Verständnis im Sinne des neuen Gesundheitsparadigmas von Halbert L. Dunn sind.
Das Krankheits-Wellness Kontinuum (Illness-Wellness Continuum)
Es verschanschaulicht die grundverschiedenen Denk- und Handlungsweisen des Behandlungs- und des Wellness-Paradigmas. Das Behandlungsparadigma ist bestimmend für unser bestehendes Gesundheits- und Medizinsystem. Es fokussiert sich auf die Diagnostik und Behandlung von Krankheiten. Auch Prävention und Rehabilitation spielen darin eine Rolle, sie sind jedoch immer krankheitsfixiert. Nur wenig Aufmerksamkeit wird den zugrunde liegenden Ursachen von Erkrankungen gewidmet. Und nur selten wird das Krankheitsgeschehen im Kontext des Lebensstils, der Umwelt, der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie der sozialen Beziehungen verstanden. Der erkrankte Mensch ist ein Symptomträger, die Kuration der Symptome in diesem Paradigma vorrangig. Die Verantwortung für die erfolgreiche Behandlung tragen der Arzt oder seine Helfer. Der erkankte Mensch soll den Anweisungen des Arztes Folge leisten (Compliance), er ist passiver Empfänger der medizinischen Leistungen. Auch verordnete Medikamente spielen in dieser Beziehung eine bedeutende Rolle. Das bestehende Gesundheits- und Medizinsystem zielt darauf ab, mit Hilfe von Medikamenten, Kräutern, Operationen, (Psycho-)Therapien, Akupunktur, usw. erkrankten Menschen zur größtmöglichen Beschwerdefreiheit zu verhelfen. Sofern dem Menschen "nichts fehlt", in dieses System nicht bzw. nicht mehr zuständig.
Das Wellness-Paradigma ermutigt Menschen im Gegensatz dazu, eigene Verantwortung für ihr Wohergehen und für ihre Gesundheit zu übernehmen und es unterstützt sie, sich so weit wie möglich in Richtung "High Level Wellness" zu bewegen. Es beruht auf der Überzeugung, dass Befindlichkeitsstörungen, Beschwerden und manifeste - insbesondere chronische - Erkrankungen einen Zusammenhang mit der Lebensweise und den Lebens-/Arbeitsbedingungen haben. Es macht Betroffenen bewusst, dass Korrekturen erforderlich sind. Es ist in gleichem Maße für Menschen diesseits und jenseits des beschwerdefreien Nullpunkts auf dem Kontinuum anwendbar und wirksam.
Das Krankheits-Wellness Kontinuum betrachtet Gesundheit als vieldimensional, was in der Abbildung nicht zur Darstellung gelangt. Wenngleich Menschen körperlich fit erscheinen mögen, können sie dennoch unglücklich sein, unter Sinnleere, negativen Emotionen oder sozialer Isolation leiden. Psychosoziale Aspekte der Gesundheit können Risikoverhalten befördern, sie können sich aber auch direkt auf neuronaler, hormonaler und immunologischer Ebene auf die physiche Gesundheit auswirken. Im Wellness-Paradigma werden Krankheit und Schwäche nicht negiert, sondern als in Bewegung befindliche Zustände auf dem Gesundheitskontinuum und als zugehörig zu einem normalen Leben verstanden. Im Wellness-Paradigma geht es weniger darum, an welchem Punkt auf dem Kontinuum sich der Mensch befindet, sondern in welche Richtung er sich orientiert.
Den Ausgangspunkt für eine aktive oder proaktive Übernahme von Verantwortung finden Menschen im Erkennen dieser Zusammenhänge (hierzu gehört auch Health Literacy) und im Bewusstsein ihrer aktuellen Position in einem individuellen Wellness-Prozess. Die Position im Sinne einer umfassenden Entwicklung zu stärken oder zu verbessern, ist die Zielsetzung von Wellness-Professionals, die beraten, trainieren, begleiten und unterstützen. Die Richtung lautet: High Level Wellness statt nur Beschwerde-/Symptomfreiheit oder das Schweigen der Organe.
Die schematische Darstellung zur Veranschaulichung der beiden Paradigmen hat nach Meinung von Travis eine Schwäche: Das Kontinuum ist eindimensional, bezogen auf die physische Gesundheit, deren Verlust letztlich den Tod herbeiführt. Das Modell zeigt nicht die übrigen menschlichen Dimensionen (mental, emotional, sozial, spirituell), die bedeutungsvoll für ein umfassendes Wohlergehen des Menschen - High Level Wellness - sind. Auch andere Wissenschaftler haben sich kritisch mit dieser Thematik auseinander gesetzt (Wie gesund sind Kranke?).
Das Eisberg-Modell
Travis vergleicht den Prozess unseres Wohlergehens mit Eisbergen. Von Eisbergen sieht man gewöhnlich nur einen kleinen Teil, der aus dem Wasser ragt. Der große Rest bleibt erst einmal unsichtbar. Was im übertragenen Sinne zunächst nicht sichtbar ist, sind die tieferen Ursachen für einen bestimmten (körperlichen) Gesundheitszustand. Travis unrterscheidet mehrere tiefere Ebenen, die ihn erklären können. Die erste, unter der Oberfläche liegende Ebene ist der Lebensstil und das Verhaltensmuster eines Menschen. In vielen Fällen erklärt diese Ebene bereits, warum Menschen krank oder gesund sind. Warum sie aber einen bstimmten Lebensstil verfolgen, kann nur durch die darunter liegenden Schichten erklärt werden.
Hier findet man die Antriebsmotive für Verhalten uind Einstellungen. Es geht dabei nicht nur um Aspekte intrapsychischer Prozesse ( Invulnerabilitätsüberzeugungen, Attribution, Kompensation, Aufwand-Nutzen-Abwägungen, Resilienz, Kohärenzsinn, und viele mehr), sondern auch um den Einfluss biografischer Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt sowie sozialer und kultureller Werte und Normen. Den Sockel des Eisbergs bildet der Bereich der spirituellen oder transpersonalen Aspekte: Die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des Lebens, dem richtigen Platz in der Welt, lebensphilosophische Erwägungen, aber auch das Unbewusste, Mystische und Metaphysische. Gerade dieser Bereich entzieht sich oft unserem Bewusstsein).
Alle tieferen Schichten des Eisbergs haben einen Einfluss auf die jeweils höheren. Sie bestimmen zu einem großen Teil, ob der sichtbare Zustand eines Menschen ein Zustand von Wellness oder von Krankheit ist. In ihrer Arbeit müssen Wellness-Professionals dieses Modell berücksichtigen, wenn sie Änderungen in Richtung High-Level Wellness mit Erfolg und auf lange Sicht unterstützen möchten.
Das Wellness-Energiesystem
Travis' Konzepte beruhen auf einem energetischen Gesundheitsverständnis, wie es auch in vielen asiatischen Gesundheitssystemen die Grundlage bildet. Travis versteht den Menschen als ein offenes System, im Sinne von Ilya Prigogne und dessen Theorie der dissipativen Strukturen, die mit einem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Als offenes System nehmen wir Energie auf, organisieren und transformieren sie und geben sie zurück an unsere Umwelt, aus der wir sie bezogen haben. Grundlegend für das Konzept Wellness ist nun die These, dass ein effizienter Fluss dieser Energie essenziell ist. Krankheit bedeutet entsprechend das Resultat jeglicher Störung im Energiefluss. Dieses Prinzip ist grundlegend für alle Lebensprozesse, bis hin zum Tod.
Ist der Energiefluss ungestört, entsteht Wohlbefinden. Gibt es eine Störung beim Input, Output oder dazwischen, fühlt man sich z.B. leer, schwach, gestresst, verwirrt, blockiert, etc. Dies kann zu einem physischen Krankheitszustand führen. Nicht alle Faktoren, die den Energiefluss bestimmen, sind willentlich beeinflussbar - viele aber doch, wie z.B. Erziehung und Ausbildung, persönliche Überzeugungen und Lebensgrundsätze, die Aktivität des Nervensystems, die Fitness von Herzkreislauf- und Muskel- und Skelettsystem, die Funktion der inneren Organe, die emotionale und soziale Entwicklung. Auch weniger offensichtliche Faktoren wie z.B. Sensibilität, Offenheit und Toleranz oder Selbstwertschätzung sind form- und veränderbar.
Travis definiert drei Hauptquellen für die Aufnahme von Energie:
- Sauerstoff
- Nahrung
- Sensorische Stimulation (taktile, visuelle, akustische, olfaktorische, gustatorische)
Daneben exisiteren aber noch weitere, weniger handfeste Energiequellen, wie z.B. Zuwendung, Liebe, extrasensorische Wahrnehmungen oder Informationen.
Infolge energetischer Transformation - dem Stoffwechsel - erfolgt Energieabgabe sowohl internal, als auch external. Internal spielen z.B. zelluläre Aufbau- und Reparaturprozesse eine bedeutende Rolle. Auch die energetische Versorgung von Muskelzellen zur Ausübung lebenswichtiger und willkürlicher Prozesse gehört dazu. Nicht zu vergessen sind emotionale und mentale Prozesse (Fühlen, Denken, Entscheiden), Bewusstsein, Träume, Intuition und vieles mehr. Externale Energieabgabe erfolgt z.B. in Form von Wärmeabstrahlung, Schweißabsonderung, Ausatmung und Ausscheidungen. Wir nutzen Energie aber auch für bewusste Handlungen, wie physische Arbeit, Sport, Spiel. Wir kommunizieren, wir lachen, lieben, weinen, sind kreativ. Wir interagieren auf vielfältige Weise mit unserer Umwelt
Travis definiert im Kontext Wellness neun Hauptaspekte der Energieabgabe:
- Selbstverantwortung und Liebe
- Sich bewegen
- Emotionen
- Kognitive Tätigkeiten
- Arbeit und Spiel
- Kommunikation
- Intimität und Sexualtät
- Lebensphilosophie
- Transzendenz
Zur Bewusstwerdung über sein eigenes Wellness-Energiesystem und als Ausgangspunkt für eine individuelle Entwicklung in Richtung High-Level Wellness entwickelte Travis auf Basis des Krankheits-Wellness Kontinuums und des Wellness-Energiesystems das Wellness Inventory, ein umfassendes Fragebogeninstrument zur Selbstexploration. Das Wellness Inventory kann online absolviert und ausgewertet werden. Es dient im Wellness Coaching als Grundlage für eine professionelle Beratung und Begleitung von Veränderungsprozessen.
Die besondere Bedeutung von Verbundenheit
Travis gelangte im Laufe seiner jahrezehntelangen Arbeit immer mehr zu der Überzeugung, dass zwischenmenschliche Prozesse eine übergeordnete Rolle für das Wohlergehen der Menschheit spielen. Das gesundheitliche Risiko sozialer Isolation einerseits und die Förderung der Gesundheit durch häufige, positive soziale Kontakte andererseits sind hinlänglich wissenschaftlich bestätigt worden. Dem Phänomen der Verbundenheit nicht nur zu Mensch, sondern auch zu Tier, Natur, Erde und Kosmos gebührt besondere Beachtung im Kontext Wellness. Die seit mehreren Jahrzehnten wirkenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strömungen stellen eine Gefährdung dieser ursprünglichen Verbundenheit dar und bedrohen nicht nur das Wohlergehen des Einzelnen, sondern des ganzen Planeten.
To understand both the underlying causes of dis-ease
and the value of wellness, we must recognize the massive
levels of disconnection around us — we are disconnected,
on unprecedented levels, from ourselves, each other,
our community/village, nature, and the sacred or divine
(however perceived).
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