Pseudo-Wellnessgäste in Pseudo-Wellnesshotels
Der Wellnesstourismus hat sich über die letzten 25 Jahren als ein stabiler Wirtschaftszweig etabliert und befindet sich abgesehen von der kurzen Delle während der Corona-Pandemie permanent auf Wachstumskurs, sogar stärker als die Tourismuswirtschaft insgesamt. In diesem Jahr soll der Wellnesstourismus laut Vorhersagen des Global Wellness Institutes (GWI) aus den USA die weltweite Umsatzschallmauer von einer Billion US-Dollar durchbrechen. Deutschland belegt in absoluten Umsatzzahlen über die letzten Jahre Platz 2 hinter den USA, was bei dem Größenunterschied der beiden Länder schon sehr bemerkenswert ist. Anderseits aber vielleicht auch nicht ganz überraschend, wurde doch das Konzept des Wellnesshotels Anfang der 1990er Jahre vom Deutschen Wellness Verband erfunden und von hier aus weltweit popularisiert.
Warum Menschen Wellnessurlaub machen
Das GWI versteht unter Wellnesstourismus alle Reisen, die mit dem Ziel verbunden sind, das persönliche Wohlbefinden zu erhalten oder zu steigern. Man könnte einwenden, dass wohl kaum jemand beabsichtigt, durch eine Reise sein Wohlbefinden zu verschlechtern oder zu verlieren. Ist also jede Reise eine Wellnessreise? Nein, das GWI schränkt selbst ein: Wellnesstouristen suchten nach Aktivitäten und Reisezielen, die ihren Wellness-Lebensstil erweitern und ihnen helfen, ihr gesundheitliches Wohlbefinden proaktiv zu erhalten und zu verbessern. So weit die Theorie. Doch stop! Deckt sich das mit der Realität? Lebensstil erweitern, Gesundheit verbessern? Unsere jahrzehntelange Erfahrung belegt, dass die weit überwiegende Zahl von Wellnessurlaubern gar keine Wellnesstouristen sind, sondern dass sie in Wirklichkeit entspannte Erholung buchen, mit so viel Luxus, wie man sich leisten kann. Ihre Hauptmotive sind: Entspannen, abschalten, genießen, sich pflegen und verwöhnen lassen, am besten an außergewöhnlichen Destinationen mit Panoramablick vom Infinity Pool.
Wellnesstouristen zweiter Klasse
Besondere Wohlfühlerlebnisse: Unbedingt. Den Abstand von zu Hause nutzen, um am Lebensstil zu feilen und gezielt etwas für die eigene Entwicklung zu tun: Nein danke. Das klingt verdächtig nach Anstrengung und Arbeit, die man gerade im Wellnessurlaub vergessen will. Auszeit. Interessanterweise gibt es aber noch einen anderen Typ von Wellnesstouristen, den das GWI als „sekundär“ bezeichnet. Sein Reiseziel ist nicht ein bestimmtes Wellnesshotel oder neudeutsch Spa Resort. Er versucht, auf seinen Reisen das gewohnte Wellness-Level aufrechtzuerhalten, egal ob privat oder geschäftlich. Für ihn zählt, so das GWI, dass er seine Wellness-Werte und seinen Wellness-Lebensstil unterwegs bewahren kann. Er sucht entsprechende Orte, die ihm verlässlich gesunde Lebensmittel, ordentliche Trainingsmöglichkeiten, optimale Schlaf- und Regenerationsbedingungen, sowie gerne auch die Gesellschaft einer gleichgesinnten, inspirierenden Community bieten.
Versteht man Wellness in seiner wahren Bedeutung, nämlich als die Summe aller Grundsätze, persönlichen Fähigkeiten, Gewohnheiten und Verhältnisse, die der größtmöglichen Entfaltung unserer Lebenspotenziale dienen, dann wäre dieser Wellness-Typ zweiter Klasse tatsächlich der echte Wellness-Tourist. Und obwohl wir vielleicht gerade denken, dass diese Art von Leuten bestimmt keine wesentliche Rolle im Big Wellness Business spielen, zeigen die Zahlen des GWI über Jahre hinweg: Sie spielen schon lange die Hauptrolle im Geschäft mit dem Wellnesstourismus, aber eher nicht im Geschäft der Wellnesshotels. Basierend auf den Daten des Marktforschungsunternehmens Euromonitor sind sie den anderen weit überlegen. Das Verhältnis zwischen primären und sekundären Wellnessreisenden, was die Zahl der Reisen, aber auch die Höhe der getätigten Ausgaben betrifft, ist 17:83, (aktuellste Zahlen von 2022).
Immer größer, immer spektakulärer, immer verrückter?
Sollte das den Betreibern von sogenannten Wellnesshotels nicht langsam zu denken geben? Sie investieren seit über 20 Jahren in einem fortwährenden, materiellen Überbietungswettbewerb unzählige Millionen für eine in ihrem Glauben ausschlaggebende Infrastruktur, haben aber die echten Wellnesskunden, von denen es offenbar mehr als genug gibt, aus den Augen verloren oder nie jemals in Betracht gezogen. Für diese Gäste zählen nicht immer größere Pool- und Saunalandschaften, noch spektakuläreres Design und Entertainment, oder das ständige Aufspringen auf jeden Trend mit dafür benötigten weiteren Einrichtungen, Gerätschaften oder Treatments. Sie wünschen sich stattdessen ein solides, funktionales Angebot für einen echten Wellness-Aufenthalt, ganz im Sinne der oben zitierten Definition. Vermutlich aber wird weiterhin die wirkmächtige Psychologie der kognitiven Dissonanz ein intelligentes Um- und Weiterdenken verhindern. Schade eigentlich, in jeder Hinsicht und für alle Beteiligten.
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